Oberärzt*innen im Wiener Rettungsdienst
Die Wiener Berufsrettung - MA 70 - setzt Oberärzt*innen im Großschadensfall und als Ergänzung im Einsatzdienst ein. Wie das System aufgebaut ist und welche Aufgaben einen in dieser Funktion bei der Berufsrettung erwarten haben wir in einem Interview im Rahmen eines Gastdienstes mit Dr. Daniel Grassmann, Oberarzt und Medizinisch-Wissenschaftlicher Leiter der Berufsrettung, erfragt.
Die Funktion des/der Oberärzt*in in der prähospitalen Notfallversorgung ist mir aus meiner täglichen Arbeit, wie vielen unserer Leser vermutlich auch, gänzlich unbekannt. Was macht ein/eine Oberärzt*in bei der Berufsrettung Wien und welche Aufgaben erwarten dich in deiner täglichen Arbeit?
Das Team der Oberärzt*innen besteht aus Notfallmediziner*innen mit umfassender Erfahrung in der prähospitalen Notfallversorgung, die bei Bedarf zusätzliche Expertise und spezielle Ausrüstung einbringen. Somit ist die Berufsrettung Wien die erste österreichische Rettungsorganisation, die den internationalen Empfehlungen folgt, in kritischen Notfallsituationen frühzeitig zusätzliche ärztliche Expertise hinzuzuziehen. Ähnliche Strukturen eines oberärztlichen Dienstes finden sich bei der Berufsfeuerwehr Berlin und Köln oder auch im Rettungsdienst der Stadt Madrid. Dabei unterstützten wir die Sanitäter*innen als auch Notärzt*innen direkt am Einsatzort, sind aber auch 24/7 für jegliche medizinische Rückfragen im Back-up Call erreichbar.
Eine weitere Kernaufgabe der Oberärzt*innen der Berufsrettung Wien ist die Tätigkeit als Leitender Notarzt (LNA). Zudem haben sie die medizinische Fachaufsicht über den gesamten Rettungsdienst Wiens.
Weiters übernehmen die Oberärzt*innen die Führung der chefärztlichen Departements wie zum Beispiel: Katastrophenmedizin, Flugrettung, der Intensivtransport, Hygiene, das med. Qualitätsmanagement oder auch die Telemedizin. Die Oberärzt*innen unterstützen neue Notärzt*innen beim Einstieg in das System der Berufsrettung Wien und supervidieren die notärztliche Versorgung im Rahmen der medizinischen Fachaufsicht.
Ich selbst übernehme im Oberarztteam die Funktion des Medizinisch-Wissenschaftlichen Leiters. Damit bin ich das Bindeglied zwischen dem oberärztlichen Dienst und der Rettungsakademie und kümmere mich unter anderem um die Studienarbeit oder die Aus- und Weiterbildung unserer Sanitäter*innen und die Weiterentwicklung unserer medizinischen Standards.
In Wien gibt es ein eigenes Oberarzt-Fahrzeug, welches sich im operativen Einsatzbetrieb befindet. Welche Berufungsdiagnosen führen zu einer Alarmierung dieser Ressource?
Mit knapp 1.900 Alarmierungen im vergangenen Jahr hat sich die Einheit ZTR-OA mittlerweile fest in der notfallmedizinischen Versorgungslandschaft der Berufsrettung Wien etabliert. Das Team der Oberärzt*innen hat sich nicht nur personell erweitert, sondern auch eine Entwicklung im Anforderungsprofil durchlaufen.
2024 übernehmen wir innerhalb der Berufsrettung Wien Aufgaben, die über die traditionelle Rolle als leitende*r Notärzt*innen hinausgehen, insbesondere gemäß einer neu definierten Ausrückordnung bei anspruchsvollen und komplexen Einsätzen.Das Fahrzeug wird immer als zusätzliche medizinische Ressource bei hochpriorisierten Einsätze von unserer Leitstelle alarmiert. Vor Ort treffen wir also immer auf ein weiteres Notarzt-Team bzw. einen RTW. Typische Einsätze für uns sind gemeldete Großschadensereignisse wo eine LNA-Tätigkeit notwendig wird, aber auch Unfälle mit Schwerstverletzten, Kindernotfälle, Stürze aus großer Höhe oder Schuss-/Stichverletzungen zählen zu ebendiesen Alarmierungen – hier stehen invasive Maßnahmen und CRM im Vordergrund. Stationiert ist das Oberarztfahrzeug in der Zentrale der Berufsrettung Wien in der Radetzkystraße, im dritten Wiener Gemeindebezirk.
Wie hat sich das OA-System entwickelt und seit wann gibt es das in Wien?
Das Oberarztsystem hat in Wien schon sehr lange Tradition. Seit dem Amtsantritt unseres neuen Chefarztes Dr. Mario Krammel im Jahr 2019 hat es viele Umstrukturierungen im oberärztlichen Bereich geben.
Großer Wert wird hierbei auch auf die Einhaltung aktueller Leitlinien gelegt – so wurde die Videolaryngoskopie flächendeckend auf allen Einsatzfahrzeugen eingeführt. Auch die Notfallsonographie und Blutgasanalyse hat Einzug auf allen Notarzteinsatzfahrzeugen gehalten. Ein weiterer Meilenstein war der Start des Projektes zur Analgetikagabe (Ketamin, Penthrop und Paracetamol) durch Notfallsanitäter*innen.
Aktuell haben wir ein Missionstatement der Oberärzt*innen festgehalten. Darin heißt es: „Unser Ziel innerhalb der Berufsrettung Wien ist es die prähospitale Notfallversorgung von Patient*innen visionär zu gestalten und stets auf Basis wissenschaftlich fundierter Evidenz zu handeln. Wir setzen uns kontinuierlich für eine fortlaufende Verbesserung der medizinischen Qualität, sowie für Innovationen im Bereich der prähospitalen Notfallmedizin ein.“
Führt das Oberarzt-Fahrzeug spezielle Ausrüstungsgegenstände mit?
Ja, es gibt mehrere spezielle Materialen die wir mitführen, wenn auch das Oberarzt-Fahrzeug prinzipiell eine Ausstattung wie ein regelrechtes NEF hat. Zu den speziellen Sachen gehören vor allem Materialien, welche nur in speziellen Situationen durch eigens geschultes Personal zu Anwendung kommen. Weiters „testen“ wir neue Medizinprodukte, welche in weiterer Folge auch oft flächendeckend ausgerollt werden.
Zu unserem Spezialequipment gehört unter anderem Versorgungs- und Management-Sets für Großunfälle, Equipment für TAG-Lagen, Material für großlumige, zentrale Zugänge als auch ein invasives Blutdruckmonitoring oder spezielle Blutstillungsmaterialien.
Ihr werdet also immer zusätzlich zu einem/einer regulären Notärzt*in + Rettungsteam alarmiert. Wie funktioniert die Rollenverteilung vor Ort, wer übernimmt die Führungsrolle und wie funktioniert die Zusammenarbeit in der täglichen Praxis?
Grundsätzlich ist das Oberarztsystem in Wien sehr gut etabliert, sodass wir und die Notärzt*innen es gewohnt sind, Hand in Hand zu arbeiten. Wir sehen uns selbst als primär unterstützendes Teammitglied am Berufungsort - wir fahren zu und bieten wenn nötig unsere Hilfe an und stehen beratend zur Seite. Die primäre Patient*innenversorgung obliegt dem/der notärztlichen Kolleg*in.
In der aktiven Teilnahme an Debriefings, welche meist durch unsere Field-Supervisor (FISU´s) geleitet werden, binden wir uns ein und fokussieren uns auf die medizinische Versorgung.
Welchen Background haben die aktuell im Dienst befindlichen Oberärzte? Habt ihr spezielle Ausbildungen?
Wir sind ein bunt gemischtes Team aus Anästhesist*innen, Internist*innen und Allgemeinmediziner*innen. Uns alle eint die Leidenschaft für die prähospitale Notfallmedizin. Der Beruf bringt neben der medizinischen Tätigkeit auch viele organisatorische Aufgaben mit sich, was eine tolle Abwechslung darstellt. Vor allem dadurch kann man auch systemisch etwas verändern und Dinge mitgestalten. Wir bringen uns auch viel in die Aus- und Weiterbildung mit ein und bieten eigene Kurse an. In Kürze startet zum Beispiel ein eigener Notarztkurs der Berufsrettung Wien.
Neben der Ausbildung zum/zur Mediziner*in haben wir jede Menge Zusatzausbildungen, wie zum Beispiel in taktischer Medizin, regelmäßige CRM und Leadership-Trainings, Kurse zu invasiven Maßnahmen bis hin zur Clamshell-Thorakotomie und selbstverständlich alle „Buchstaben-Kurse“ von PHTLS über ERC, die man so kennt. Einige von uns haben auch eine Spezialausbildung als Höhenretter*in.
Die Telemedizin hat bei euch bereits eine längere Historie und ist in kürzerer Vergangenheit mit immer besseren technologischen Mitteln präsenter geworden. Wie wird das Thema bei euch gehandhabt und gibt es Pläne für die Zukunft?
In Kürze werden wir ein eigenes Projekt dazu starten. Bereits seit längerer Zeit können wir EKG´s von unseren RTWs empfangen und stehen ihnen bei allen medizinischen Fragen telefonisch zur Verfügung. Dies soll aber weiter ausgebaut werden, mit weiteren technischen Funktionen wie einer Live-Datenübertragung und einem/einer fix zugeordneten Oberärzt*in in der Wiener Rettungsleitstelle. Dafür werden wir dieses Jahr auch dementsprechende Zusatzausbildungen absolvieren.
Die Berufsrettung Wien war und ist in Österreich sicherlich einer der Innovationsmotoren im Rettungsdienst. Darunter fällt auch die Etablierung eines eigenen Studien-Fahrzeugs in eurer Zentrale, welches ausschließlich wissenschaftliche Arbeit übernimmt. Worum handelt es sich und provokant gefragt: Ist das reiner Luxus oder brauchen wir mehr Forschung in der präklinischen Notfallmedizin?
Seit 2022 ist regelmäßig ein Studienfahrzeug in enger Zusammenarbeit mit der Medizinischen Universität Wien und dem Ludwig Boltzmann Institut im Einsatz. Mit 200 Diensten und rund 550 Alarmierungen im Jahr 2023 konnten wir in Wien einen Meilenstein im Bereich der prähospitalen notfallmedizinischen Forschung setzen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass es besonders in der prähospitalen Notfallmedizin einen großen Bedarf für Forschungsarbeit gibt. Wir betreiben dafür ein eigenes Fahrzeug, welches mit einen/einer Lenker*in und einem/einer Studienbetreuer*in nun fast an jedem Tagdienst auf der Straße tätig ist. Aktuell betreut das Studien-Fahrzeug vier Studien und wir beginnen gerade mit zwei weiteren.
In der prähospitalen Notfallmedizin haben wir noch viele ungeklärte Forschungsfragen, standen aber bis vor zwei Jahren vor dem Problem, dass neben der Versorgung unserer Patienten*innen keine für uns zufriedenstellend „saubere“ Datenerhebung (Zeitmessungen etc.) bzw. Durchführung der studienrelevanten Maßnahmen möglich war.Die bestmögliche Versorgung unserer Patient*innen hat zudem die höchste Priorität. Dadurch, dass sich das Team des Studien-Fahrzeugs nur um die Durchführung der Studie und die dazugehörige Datenerhebung kümmert und primär nicht in die eigentliche Patient*innenversorgung eingebunden ist können wir dies optimal sicherstellen.
Im vergangen Jahr konnten wir 19 Publikationen gemeinsam mit unseren Partner*innen veröffentlichen.
Seit wann gibt es das Studien-Fahrzeug, wie ist es damals entstanden und wie kann man Entscheidungsträger von der Notwendigkeit überzeugen?
Das Studienfahrzeug ist seit 2 Jahren in der Zentrale der Berufsrettung Wien stationiert. Natürlich liegt die Hauptaufgabe der Berufsrettung Wien in der Patient*innenversorgung und nicht in der Wissenschaft und Forschung. Mit dem Hinblick darauf, dass wir mit den Ergebnissen unserer wissenschaftlichen Arbeit auch einen Nutzen für die tägliche Patient*innenversorgung ziehen, konnten wir das Projekt mit der Unterstützung vieler Mitstreiter umsetzen.
Um das Projekt auch am Leben zu halten braucht es viel Motivation, Einsatz und Sorgfalt. Wir fokussierten uns zu Beginn auf Projekte mit nicht allzu langer Dauer, haben aber nun bereits randomisiert kontrollierte Studien laufen, die über zwölf Monate gehen. Die Relevanz für die tägliche Praxis ist natürlich unser Fokus. Bespiele dafür sind Beatmungsstudien während der Reanimation, PulsCheck bei Rhythmusanalyse im Rahmen der CPR mit Ultraschall oder die Untersuchung reversible Ursachen in der Reanimation.
Welche Projekte stehen in der der Pipeline bei der Berufsrettung oder sind kürzlich über die Bühne gegangen?
Vor kurzem haben wir, zusammen mit mehreren Partnern, für die Maßnahme der Clamshell-Thorakotomie den Viennese Resuscitative Thoracotomy-Kurs (kurz VieRT) etabliert, wo Notärzt*innen und Sanitäter*innen in Szenarientrainings und am Humanpräparat alle notwendigen invasiven Skills erlernen. Ebenso bieten wir einen prehospital POCUS Provider-Kurs an. Die invasive Blutdruckmessung befindet sich derzeit in der Ausrollung, dabei erhoffen wir uns zum Beispiel bei Narkoseeinleitung oder instabilen Patient*innen mehr Kontrolle über die Hämodynamik.
Danke für das tolle Gespräch!