Bild: Zeit für ein Umdenken

Zeit für ein Umdenken

Unser Mitglied Tobias hat Dienst als Notfallsanitäter auf einem Rettungswagen in Innsbruck. Er wird mit seinem Team zu einem Einsatz in der Nähe mit Stichwort Bolusgeschehen alarmiert. Vor Ort findet er einen 74-jährigen Patienten mit offensichtlich verschlucktem Fleischstück. Er bekommt keine Luft und ist kurz vor einem Atem-Kreislaufstillstand in einer sogenannten Peri-Arrest Situation - damit in höchster Lebensgefahr.

Das Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) aus Innsbruck ist bei einem anderen Einsatz gebunden, das alarmierte NEF Hall benötigt noch 8 Minuten zu Einsatzort. Wenn in dieser Situation nicht äußerst rasch gehandelt wird, kann der Sauerstoffmangel zu einem Atem-Kreislaufstillstand führen. Durch die Minderversorgung des Gehirns können innerhalb von Minuten schwerwiegende lebenslange Einschränkungen bis zum (Hirn-)Tod die Folge sein.

Die Lehrmeinung, nach der Tobias ausgebildet wurde, sieht in dieser Situation den Beginn von Reanimationsmaßnahmen vor. Ein Fremdkörper darf nur auf Sicht mit Hilfe einer Magillzange entfernt werden. Gelingt dies nicht, so soll ein supraglottischer Atemweg platziert werden, unabhängig von der Ätiologie des Atem-Kreislaufstillstands. Tobias  nimmt sich vor diesem Hintergrund ein Herz und entfernt mit Hilfe von Magill-Zange und Laryngoskop - so wie es internationale Leitlinien vorgeben - das Fleischstück aus dem Rachen des Patienten und rettet ihm damit das Leben. Unmittelbar nach Entfernung des Fremdkörpers kann der Patient wieder atmen, klart auf und kann kurze Zeit nach dem Ereignis das Krankenhaus ohne weitere Folgen verlassen.

Dies hat sich kürzlich tatsächlich so in Innsbruck zugetragen. Wer meinen möchte, dass Tobias für seine lebensrettende Tat ausschließlich Zuspruch und Dank von allen Seiten erwarten kann, der irrt. Sofort stehen Fragen nach Rechtssicherheit und Konsequenzen im Raum. Letztlich stellt diese leitliniengerechte Therapie im aktuellen System in Tirol möglicherweise eine Kompetenzüberschreitung dar. Eine direkte Laryngoskopie zur Fremdkörperentfernung ist zumindest von der Rettungssanitäter-Lehrmeinung nicht vorgesehen. Für die wesentlich besser ausgebildeten Notfallsanitäter/NKV gibt es eine solche schlicht nicht. Notfallsanitäter mit der Zusatzkompetenz „Intubation“ werden in Tirol nicht ausgebildet. Dies wird unter anderem in Rücksprache und auch auf Wunsch des Patienten zum Anlass genommen den Fall öffentlich zu machen.

Und tatsächlich lassen erste negative Reaktionen nicht lange auf sich warten, insbesondere von landes-chefärztlicher Seite der betreffenden Einsatzorganisation scheint hier zumindest initial keine Rückendeckung erwartbar. Es wird Druck ausgeübt und gerichtliche Maßnahmen werden in den Raum gestellt (siehe orf.at). Das Rote Kreuz Innsbruck stellt sich als Arbeitgeber hinter Tobias.

Wir hingegen wollen in dieser Sache Tobias den Rücken stärken, seine Leistung hervorheben und stellen uns klar hinter sein lebensrettendes Handeln. Wir sind überzeugt, dass er medizinisch und ethisch, als auch rechtlich richtig gehandelt hat. Tobias ist mutig und mit hoher Kompetenz und Professionalität vorgegangen, hat den Patienten und dessen Gesundheit in den Fokus gestellt und eine nach allen Regeln der Medizin indizierte Maßnahme korrekt durchgeführt. 

Bei unseren Trainings- und Fortbildungen legen wir stets höchsten Wert auf Therapie nach aktuellsten Studien und Leitlinien. Dabei stellen wir immer wieder fest, dass lokale Lehrmeinungen nicht mit den Entwicklungen einer modernen Notfallmedizin Schritt halten können. Gerade in Österreich bekommen Sanitäter:innen einzelne Tools oft aus dem Kontext gerissen zur Verfügung gestellt. Man orientiert sich dabei stets am vergleichsweise niedrigen Ausbildungsstand der Grundausbildung.

Wenn 8 Minuten lang niemand dem Patienten ein Fleischstück aus dem Rachen entfernen darf, an dem dieser gerade erstickt, drängen sich Fragen auf. Wenn Sanitäter ihre Kompetenz überschreiten (müssen) ebenfalls. Fragen und Fälle wie dieser müssen primär in internen Fallbesprechungen behandelt werden und nicht vor Gericht. Sie müssen im Rahmen regelmäßiger interner Fallbesprechungen offen präsentiert, von allen Seiten beleuchtet und akribisch analysiert werden können. Denn es ist von großer Bedeutung, dass wir aus Situationen wie sie sich beispielhaft in diesem Fall zugetragen haben, lernen können. Zum Zweck der Qualitätssicherung, Aus- und Fortbildung und Weiterentwicklung des Systems Rettungsdienst. Während man im Sinne einer zeitgerechten klinischen Governance einer offenen und ehrlichen, sicher auch lehrreichen Fallbesprechung  in einer sicheren und angenehmen Atmosphäre entgegen sehen möchte, fürchtet Tobias ein Verwaltungsstrafverfahren gegen ihn. Dies hat sich hierzulande in der Medizin leider noch immer nicht durchgesetzt, es gibt noch nicht einmal eine deutsche Übersetzung dafür. Die im Raum stehenden rechtlichen Mittel sind ein Befund dafür, dass entsprechende interne Instrumente fehlen und das Konzept einer “just-culture” noch nicht angekommen ist. Werden jegliche Protokollabweichungen vor dem Richter besprochen, werden diese zukünftig wohl nur noch im Geheimen oder gar nicht passieren. 

Es ist uns an dieser Stelle wichtig festzuhalten, dass sich das Rote Kreuz Innsbruck hinter seinen Mitarbeiter gestellt und ihm gratuliert hat, ein Leben gerettet zu haben. Der Zuspruch, den Tobias von seinem Arbeitgeber und auch Kolleg:innen organisationsübergreifend erfahren hat ist der schöne Teil dieser Geschichte. 

Wir stehen hinter Tobias. Das System Rettungsdienst muss sich weiterentwickeln. Wir sind der festen Überzeugung, dass es an der Zeit ist, sich von antiquitiertem Standesdenken zu verabschieden und die Sache selbst, nämlich die bestmögliche Behandlung unserer Patient:innen in den Fokus zu rücken. Es ist Zeit, dass sich Notfallmedizin sowohl im ärztlichen als auch im nicht-ärztlichen Bereich flächendeckend professionalisiert. Es ist Zeit, dass Sanitäter eine adäquate Ausbildung erhalten und der Beruf in einem hochkritischen Umfeld auch als solcher anerkannt wird. Es ist Zeit, dass Sanitätern nach entsprechender Ausbildung Maßnahmen an die Hand gegeben werden um Notfallpatienten adäquat zu versorgen, während Notärzte dorthin alarmiert werden sollen, wo ihre hohe Kompetenz auch tatsächlich gebraucht wird. Nur wenn wir gemeinsam an einem Strang ziehen werden wir Notfallmedizin nachhaltig weiterentwickeln. 

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